Geistliches Wort

Liebe Pfarrangehörige,wir alle kennen das Wort „Einsamkeit“. Die meisten Menschen verbinden damit depressive Stunden und Tage und das Gefühl der absoluten Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an etwas Dunkles, das uns anspringt und lähmt.Wenn ein Ehepartner stirbt, wenn den eigenen Kindern etwas Furchtbares wi-derfahren ist oder wenn Freundschaften zerbrechen – dann ist sie zur Stelle: die Einsamkeit. Manchmal ist der Verlust eines geliebten Menschen so heftig, dass es einen psychisch krank macht. Spätestens dann muss man sich Hilfe holen, da-mit man der Schattenwelt entweichen kann und wieder Boden unter den Füßen bekommt.In den Jahren, in denen ich in Berlin studierte, kannte ich einsame Menschen von einer ganz anderen Art. Sie waren inmitten der Großstadt einsam trotz der vielen Menschen, die sie umgaben. Man kann einsam sein, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die das Individuelle zelebriert. In der Stadt können viele in der Einsamkeitsfalle landen, weil sie von niemandem mehr aufgefangen werden, weil niemand da ist, der sich für den Einsamen interessiert. Auf dem Land gelten noch die sozialen Beziehungen viel, obwohl auch hier Einsamkeit um sich greifen kann.Ein sich ausgeliefert fühlender Mensch spürt sich als Individuum, ungebunden, allein, losgelöst von der sozialen Welt mit dem zermürbenden Gefühl, das einen niemand wirklich versteht. Das grenzt aus, macht unfrei. Im Unterschied zum frei gewählten Allein-Sein ist solche Einsamkeit etwas das wehtut – emotional, weil ohne wirkliche Herzensbeziehung, sozial, weil ohne tragende Kontakte, kollektiv, weil herausgefallen aus dem ganzen Lebenszusammenhang, in allem eben ohne Verbundenheit, sagt der geistliche Schriftsteller Gotthard Fuchs.Es gibt aber auch Menschen – oft tief spirituell verwurzelt in ihrer Gottesbezie-hung, die suchen die Einsamkeit. Eine moderne Mystikerin schreibt: „Ich kenne zwei Arten von Einsamkeit. Die eine macht mich todunglücklich und gibt mir ein verlorenes und verlassenes Gefühl, die andere macht mich stark und glücklich.“ Zwei völlig verschiedene Gefühlslagen, die sich hier artikulieren. Doch wie können wir das Einsam-sein als Christen in der Welt einschätzen?Christsein bedeutet: Ich weiß mich aufgehoben in der Sphäre Gottes, der mich ins Leben gerufen hat, der nicht will, dass ich wegen schwierigen sozialen und psychischen Umständen, durch gefräßige negative Emotionen zugrunde gehe.   Gott ist im ortlosen, also überall auch dort, wo ich ihn nicht vermute. Und den-noch ist er bei mir, mitten in meinem Leben, und dem Leben anderer. Gott schweigt anscheinend das Leben an. Niemand kennt seine Stimme. Im Lärm der Zeit und der unendlich vielen Zerstreuungen, dem das innere Ich ständig ausge-setzt ist. Gott ist im Verborgenen und gleichzeitig mitten im Augenblick. Der Augenblick hat keinen Namen, schreibt ein Schriftsteller in einer Erzählung. Ich sage: Gott ist im Augenblick, der kürzer ist als ein Wimpernschlag. Von Gott gibt es Ahnungen, Vermutungen. Theologen versuchen seinen Heiligen Geist auszuloten und mit menschlichen Worten begreiflich zu machen. Gott lässt sich nicht festhalten, so wenig wie den Augenblick. Gott ist neben mir, vor mir, hinter mir und immer über mir und in mir.In jedem Augenblick kann ich den Schimmer eines Schimmers seiner Ausstrah-lung vermuten, doch ist er nicht zu erhaschen.Als Christ kann ich in diesem Augenblick eines Augenblicks einer Millionstel Sekunde vielleicht erfahren, dass ER da war und ist. In diesem Bruchteil eines Augenblicks erbleicht die Einsamkeit auf der Suche nach dem, der immer um mich und in mir ist.Es gibt kein Rezept, der Einsamkeit zu entfliehen. Ich kann und darf Gott mein Leben, das fröhliche und gelungene, ebenso wie das Versinken in totaler Lethargie und Angst hinhalten.All das kennt er und will mit dabei sein in allen Fasern des Lebensmantels.
Es gibt keine Garantie für ein sorgloses Leben, aber es gibt die Gewissheit, dass einer uns immer ganz nahe ist. 
Es grüßt Sie ganz herzlichIhr
Dr. Harald Müller-Baußmann, Diakon